Sonntag, 10. Mai 2015
Zum ehrenden Gedenken an Günter Grass:
„Der Vater“
Wenn es in der Heizung pocht,
schauen ihn die Kinder an,
weil es in der Heizung pocht.
Wenn die Uhr schlägt und Bauklötze
stürzen, schaun die Kinder,
weil die Uhr, den Vater an.
Wenn die Milch gerinnt und säuert,
strafen unverrückbar Blicke,
weil sein Blick die Milch gesäuert.
Wenn es scharf nach Kurzschluss riecht,
schaun im Dunkeln alle Kinder ihn an,
weil’s nach Kurzschluss riecht.
Erst wenn seine Kinder schlafen,
blickt der Vater in den Spiegel,
weil er noch nicht schlafen kann.
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Der Dichter nennt seine Figur bewusst nicht „Mann“.
Geht es um sein Geschlecht? Um die biologischen und gesellschaftlichen Wissens- und Erlebensinseln? Der Vater, das ist das männliche, biologische, Zweitwesen neben der Mutter. Ein Lebendiger?
Wie ein Hausmeister existiert er. Technik: Heizung, Technik: Uhr, Technik: Bauklötze, Technik: Kurzschluss und Nahrung, die er in seiner Rolle sichern soll: Doch die Milch gerinnt, weil sein (unleidlicher) Blick sie säuert, also zerstört, denn dieser Vater ist nur ein werkelnder Macher, ein Technokrat, der die Taktung des Lebens verantwortet, nicht das Leben, nicht die Lebensvorgänge, nicht die Liebe.
Ein typischer Bestäuber der Frauen ist er. Die Jeweilige wird durch ihn zur Mutter. Er bleibt für den Nestbau und die materiellen Strukturen. Für das Leben ist er verzichtbar. Ersetzbar. Man braucht von ihm eigentlich nur eine Funktion. Das weiß Grass, denn der Vater ist er selbst.

Nun bedenken wir ihn in Lübeck. Heute. Sonntag, 10. Mai 2015 © Karl Wilhelm Goebel

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