Samstag, 11. August 2012
Eine wahre Geschichte...
klugschieters, 20:21h
An einem kalten Januarmorgen spielt ein Mann in Jeans und Baseballkappe in der U-Bahn- Station L'Enfant Plaza von Washington DC auf einer Violine Stücke von Johann Sebastian Bach, Franz Schubert und anderen. Er begann mit Bachs ebenso bekannter wie schwierigen Chaconne in d-Moll. Die meisten Menschen sind auf dem Weg zur Arbeit.
Nach etwa drei Minuten verlangsamt ein Passant seine Schritte, schaut zu dem Musiker, geht dann aber weiter. Vier Minuten später wirft eine Frau einen Dollar in den offenen Geigenkasten, ohne ihr Tempo zu verringern. Sechs Minuten später lehnt sich ein Mann gegen die Wand und hört zu. Nach kurzer Zeit schaut er auf die Uhr und geht weiter.
Zehn Minuten später: Ein vielleicht dreijähriger Junge bleibt stehen und schaut den Geiger an. Seine Mutter zieht in weiter. Mehrere andere Kinder verhielten sich ebenso. Alle Eltern, ohne Ausnahme, drängten ihre Kinder zum Weitergehen.
Ohne abzusetzen spielt der Musiker 40 Minuten lang. Bis dahin sind 1097 Personen an ihm vorbei gehastet, sechs blieben stehen und hörten kurze Zeit zu. Etwa 20 Personen schenkten ihm Geld. Der Mann hat 32,17 Dollar eingenommen. Nun beendet er sein Spiel. Niemand applaudiert, niemand nimmt Notiz von ihm. Es gibt keine Anerkennung.
Der Mann war Joshua Bell, einer der größten Violinisten unserer Zeit. Er spielte auf einer Stradivari die Fritz Kreisler einst in der ganzen Welt gespielt hatte. Sie hat einen Wert von etwa 3,5 Millionen Dollar. Zwei Tage zuvor spielte Bell vor ausverkauftem Haus in Boston die gleichen Stücke zu einem Durchschnittspreis von 100 Dollar pro Platz.
Auftraggeber dieses sozialen Experiments über Wahrnehmung, Geschmack und Prioritäten war die Washington Post.
Folgende Fragen warf das Experiment auf:
• Können wir Schönheit in einem alltäglichen Umfeld, zu einem angemessenen Zeitpunkt, wahrnehmen?
• Wenn dem so ist, nehmen wir uns die Zeit sie Wertzuschätzen?
• Erkennen wir Talent in einem unerwarteten Kontext?
Für Joshua Bell war das offenbar ein gelungener Lernprozess über Kunstöffentlichkeit, den Wert des Künstlers und zudem eine Grenzerfahrung sein Tun und seinen Ruhm betreffend: „Wenn ich für Eintrittskartenbesitzer spiele, habe ich schon einen Wert. Da habe ich nicht das Gefühl, dass ich erst akzeptiert werden muss, denn da bin ich es bereits". Da hat sich ein berühmter Musiker von den Medien überreden lassen zu einer raren, soziologisch aufschlussreichen Musikaktion, zu einem Selbstversuch mit dem Publikum als dem „flüchtigen" Wesen. Bar jeden Schutzes durch Karriere und Konzertsituation wollte Joshua Bell gewiss nicht nur sich und anderen einen Spaß machen, sondern auch erkennen, dass sein eigener Status als Virtuose, als privilegierter, vom Erfolg verwöhnter Starmusiker auch dank dieser Erfahrung nicht ohne Verstörung bleibt.
Der Journalist Gene Weingarten hat für seinen Artikel, in dem er dieses Experiment beschrieben und kommentiert hat, 2008 den Pulitzer-Preis für Fachjournalismus (feature writing) erhalten.
©J. Zimmer
11. August 2012
Nach etwa drei Minuten verlangsamt ein Passant seine Schritte, schaut zu dem Musiker, geht dann aber weiter. Vier Minuten später wirft eine Frau einen Dollar in den offenen Geigenkasten, ohne ihr Tempo zu verringern. Sechs Minuten später lehnt sich ein Mann gegen die Wand und hört zu. Nach kurzer Zeit schaut er auf die Uhr und geht weiter.
Zehn Minuten später: Ein vielleicht dreijähriger Junge bleibt stehen und schaut den Geiger an. Seine Mutter zieht in weiter. Mehrere andere Kinder verhielten sich ebenso. Alle Eltern, ohne Ausnahme, drängten ihre Kinder zum Weitergehen.
Ohne abzusetzen spielt der Musiker 40 Minuten lang. Bis dahin sind 1097 Personen an ihm vorbei gehastet, sechs blieben stehen und hörten kurze Zeit zu. Etwa 20 Personen schenkten ihm Geld. Der Mann hat 32,17 Dollar eingenommen. Nun beendet er sein Spiel. Niemand applaudiert, niemand nimmt Notiz von ihm. Es gibt keine Anerkennung.
Der Mann war Joshua Bell, einer der größten Violinisten unserer Zeit. Er spielte auf einer Stradivari die Fritz Kreisler einst in der ganzen Welt gespielt hatte. Sie hat einen Wert von etwa 3,5 Millionen Dollar. Zwei Tage zuvor spielte Bell vor ausverkauftem Haus in Boston die gleichen Stücke zu einem Durchschnittspreis von 100 Dollar pro Platz.
Auftraggeber dieses sozialen Experiments über Wahrnehmung, Geschmack und Prioritäten war die Washington Post.
Folgende Fragen warf das Experiment auf:
• Können wir Schönheit in einem alltäglichen Umfeld, zu einem angemessenen Zeitpunkt, wahrnehmen?
• Wenn dem so ist, nehmen wir uns die Zeit sie Wertzuschätzen?
• Erkennen wir Talent in einem unerwarteten Kontext?
Für Joshua Bell war das offenbar ein gelungener Lernprozess über Kunstöffentlichkeit, den Wert des Künstlers und zudem eine Grenzerfahrung sein Tun und seinen Ruhm betreffend: „Wenn ich für Eintrittskartenbesitzer spiele, habe ich schon einen Wert. Da habe ich nicht das Gefühl, dass ich erst akzeptiert werden muss, denn da bin ich es bereits". Da hat sich ein berühmter Musiker von den Medien überreden lassen zu einer raren, soziologisch aufschlussreichen Musikaktion, zu einem Selbstversuch mit dem Publikum als dem „flüchtigen" Wesen. Bar jeden Schutzes durch Karriere und Konzertsituation wollte Joshua Bell gewiss nicht nur sich und anderen einen Spaß machen, sondern auch erkennen, dass sein eigener Status als Virtuose, als privilegierter, vom Erfolg verwöhnter Starmusiker auch dank dieser Erfahrung nicht ohne Verstörung bleibt.
Der Journalist Gene Weingarten hat für seinen Artikel, in dem er dieses Experiment beschrieben und kommentiert hat, 2008 den Pulitzer-Preis für Fachjournalismus (feature writing) erhalten.
©J. Zimmer
11. August 2012
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klugschieters,
Sonntag, 12. August 2012, 03:31
Höre doch mal diese Musik!
Der Mensch unter belebten Metropolbedingungen wird Tag für Tag, Stunde für Stunde, Minute für Minute, ja, sogar Sekunde für Sekunde vor allem zur spontanen Entscheidung gezwungen, wenngleich ihm das häufig nicht als „Prozess“ zum Bewusstsein gelangt.
Gerade im Straßenverkehr trifft er auf der Basis von Annahmen schnelle Entscheidungen z. B. beim Einschätzen von Geschwindigkeiten sich nähernder oder entfernender Fahrzeuge oder ob er einen Fußgänger persönlich kennt oder nicht. Dafür genügen ihm Bruchteile von Augenblicken.
Wer in einer Fußgängerzone einen musizierenden Menschen bemerkt, ordnet unterbewusst den Mann in den Kontext von Armut, Not und erbarmungswürdiger „Kunst“ ein. Bei Jedem läuft eine kleines Programm ab: Die eine Person will aus sozialen Erwägungen helfen, sie gibt ohne Kunstempfinden den Dollar, die andere Person bemerkt Disharmonien: Erwartete, abgespeicherte wenig kunstvolle Töne contra einer Wahrnehmung, die dazu nicht passt. Deswegen geht der Mann zurück, weil er vermutet, dass er sich irrt…Zweifel hat er vielleicht, hat aber keine Zeit oder keine Lust, dem sich aufdrängenden Widerspruch auf den Grund zu gehen. Einzig Kinder, mit Vorurteilen (noch) nicht belastet, hören wirklich unvoreingenommen, erkennen vielleicht sogar etwas von der Qualität der Darbietung.
Erwachsene jedoch fühlen sich nicht aufgefordert, an diesem Ort und zu dieser Zeit Kunst zu genießen, ganz abgesehen davon, dass die fünfundneunzig prozentige Mehrheit dazu auch nicht qualifiziert wäre.
Bitter für Bell.
Sonntag, 12. August 2012
© Karl Wilhelm Goebel
Gerade im Straßenverkehr trifft er auf der Basis von Annahmen schnelle Entscheidungen z. B. beim Einschätzen von Geschwindigkeiten sich nähernder oder entfernender Fahrzeuge oder ob er einen Fußgänger persönlich kennt oder nicht. Dafür genügen ihm Bruchteile von Augenblicken.
Wer in einer Fußgängerzone einen musizierenden Menschen bemerkt, ordnet unterbewusst den Mann in den Kontext von Armut, Not und erbarmungswürdiger „Kunst“ ein. Bei Jedem läuft eine kleines Programm ab: Die eine Person will aus sozialen Erwägungen helfen, sie gibt ohne Kunstempfinden den Dollar, die andere Person bemerkt Disharmonien: Erwartete, abgespeicherte wenig kunstvolle Töne contra einer Wahrnehmung, die dazu nicht passt. Deswegen geht der Mann zurück, weil er vermutet, dass er sich irrt…Zweifel hat er vielleicht, hat aber keine Zeit oder keine Lust, dem sich aufdrängenden Widerspruch auf den Grund zu gehen. Einzig Kinder, mit Vorurteilen (noch) nicht belastet, hören wirklich unvoreingenommen, erkennen vielleicht sogar etwas von der Qualität der Darbietung.
Erwachsene jedoch fühlen sich nicht aufgefordert, an diesem Ort und zu dieser Zeit Kunst zu genießen, ganz abgesehen davon, dass die fünfundneunzig prozentige Mehrheit dazu auch nicht qualifiziert wäre.
Bitter für Bell.
Sonntag, 12. August 2012
© Karl Wilhelm Goebel
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