Montag, 8. April 2013
I "like" it
Die Zeiten vor Facebook, kaum jemand kann es sich noch vorstellen:
Damals war die kultivierte Menschheit noch der Ansicht, jeder Einzelne müsse sich ein differenziertes Bild von der Welt machen, müsse dieses überlegen oder jenes abwägen, könne in einem Prozess allmählich zu einem Urteil finden. Heute ist derjenige, der mal eben den Boden bekratzt schon Archäologe mit Tiefgang.
Was ist passiert?
Nun, wir finden Freunde nicht mehr als Ergebnis einer äußerst sorgfältigen Auswahl oder innerhalb dieser. Die gewissenhafte Auslese fand früher von allen Seiten statt und deren Ergebnisse wurden mehr oder weniger feierlich gegenseirtig versichert. Nein.

Heute ist man schon befreundet, wenn man bei einem anderen Coffee to go – Konsumenten einen Halbsatz vollendet hat und das lustig findet. Oder wenn man entdeckt, dass der soeben getroffene Mensch seine Handtasche beim selben Anbieter ersteht. Oder einer auch nach Malle oder eben nicht dorthin fliegt, was der Andere granatengeil findet. Schnell und hemmungslos sind Mann und Frau oder Mann und Mann oder Frau und Frau „befreundet“. Später kann der Facebook – User im Profil des Freundes, der Freundin, herausfinden, was an ihm oder ihr per Eigenerwähnung Bemerkenswertes ist und vor allem, welche Freunde da u. Umständen noch geparkt sind, unter denen man, früher sagte man: blättern kann, um die Frage zu beantworten: „Kennst Du..., dann lade sie/ihn doch ein...“

Einer meiner „Freunde“, ein in unsere Sippe eingeheirateter Jumbopilot aus Brüssel fliegt wie verrückt in der Welt herum und hat eine verdammt stattliche Zahl von ausgesprochen schönen Freundinnen. Da könnte ich ja auch mal den Versuch einer „Freundschaft“ per Anfrage wagen, dachte ich, aber die sprechen, weil der Gute so viel und überall kontaktet, alle möglichen Sprachen, wie sie auf der ganzen Welt vorkommen. Sie lächeln verführerisch. Meistens sind die sozialen Bedingungen und Vorlieben fremdsprachisch und noch dazu kryptisch beschrieben. Ein babylonisches Sprachenwirrwar. Also: Letztlich doch nervtötend mühsam, diese Art von federleichter "Freundin" - Gewinnung...

Nicht nur die Freundeswahl ist pipieinfach. Was mir gefällt, kann ich heute schnell und effizient artikulieren. Machte man sich früher (überflüssige) Gedanken. Z. B. „Mag ich Udo Lindenberg? Wirklich? Oder nur das eine oder andere Lied von ihm?“
Heute ist der Mensch mit einem solchen Thema schnell fertig. Facebook hat dafür den „Like – Button“ erfunden. Nun gibt’s kein breites und tiefes Sinnieren mehr. Die Frage wird dank des Buttons vereinfacht, verdichtet auf „like it“ oder eben nicht. Wenn nicht, muss der Mensch das nicht einmal artikulieren. Er bleibt ganz regungslos.
Wenn der User aber etwas „like“ empfindet, dann klickt er oder sie und schon weiß er oder sie vor allem selbst, was Sache ist. Also, im vorstehenden Fall hieße das, ja, ich finde den Lindenberg supergeil. Mein kritisches, unmodernes Männchen im Kopf protestiert jedoch sofort: „Das stimmt doch gar nicht.“ Doch die Sache ist entschieden, ich werde mich daran gewöhnen müssen.
Oder „like“ ich Mozart, meine Freundin, die Stadt Burgwedel, die Schauspielerin Bettina Zimmermann, den verlandenden Würmsee, das profillose, hiesige Rathaus oder den Mini - Domfront - Platz...?

Schluss: Man muss es „liken“ oder für immer schweigen. Ob man auf diese Weise nicht auch moderne Ehen schließen könnte? Ein hübscher Like – Button auf dem Tresen im Standesamt:
„Like“. Oder nicht. Entscheiden Sie sich.
Eines Tages gibt es diese Abstimmungen bestimmt schon per Internet für Bewegungsmuffel.

Die Welt ist so einfach geworden. Es sind wahrlich schöne, neue Zeiten.
Denn
„Ja, - aber...“ - Bedenken und Bedenkenträger, ... das war früher...
Montag, 8. April 2013

Anmerkung:
Lesenswert ist zunächst schon die Rezension von Philipp Theisons zu dem Bändchen von Roland Reuß: "Ende der Hypnose" (zur Digitalisierungsdebatte)

"Die Entmündigung des Publikums kann nur deswegen erfolgreich fortschreiten, weil es das Publikum selbst so will; weil es sich bereitwillig durch immer neue Gadgets programmieren lässt, weil ihm Effizienz vor Tiefe und Zerstreuung vor Konzentration geht, weil es sein Ich für I-Phones, für „Substitute verlorenen Selbstseins“ eingetauscht hat."
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=17693

9.4.2013
© Karl Wilhelm Goebel

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